Jakob Ole Lenz

Politikwissenschaftler



Staat und Gesellschaft in der politischen Theorie Saul Aschers

Fachbereich: Institut für politische Theorie und Ideengeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Erstbetreuer: Prof. Dr. Harald Bluhm (MLU Halle)

Zweitbetreuer: apl. Prof. Dr. Christoph Schulte (Potsdam)

Förderung: Promotionsstipendium der Rosa-Luxemburg-Stiftung (seit Oktober 2021)


Kaum ein Autor wurde in der frühnationalistischen Mobilisierung gegen die napoleonische Herrschaft und für eine homogene deutsche Nation so sehr angefeindet wie der jüdische Spätaufklärer Saul Ascher (1767 – 1822).
Neben seinen polemischen Flugschriften wie der nicht mehr völlig unbekannten Germanomanie von 1815 verdient Aschers noch nicht systematisch erschlossenes Werk ideengeschichtliche Analysen. Mit historisch-kritischem Blick soll Aschers politische Theorie untersucht werden. Dabei geht es um die Frage, inwieweit Aschers religions- oder auch revolutionsphilosophischen Monographien, politisch-publizistischen Zeitschriftenbeiträgen, Übersetzungen und kommentierenden Essays zum Zeitgeschehen Konzeptionen von Gesellschaft und Staat in sich bergen. Zwar hat die jüngere Forschung begonnen Aschers Werk zu erschließen, aber es ist weder in seiner systematischen noch seiner politischen Stoßrichtung ausgelotet worden.
Der wissenschaftliche Bereich, in dem das Promotionsvorhaben angesiedelt ist, ist die Politikwissenschaft, insbesondere die politische Ideengeschichte.
Die zentrale Forschungsfrage lautet, inwieweit aus Aschers politiktheoretischen und religi-onsphilosophischen Schriften eine neue Relationierung von Gesellschaft und Staat herausgearbeitet werden kann, die er vor dem Hintergrund der Französischen Revolution und in Abgrenzung zum aufkommenden Nationalismus vornimmt. Dabei ist viel auf Kontexte einzugehen, denn Ascher argumentiert als politischer Publizist und scharfer Kritiker der politischen und gesellschaftlichen Zustände seiner Zeit, allen voran der sich verdichtenden politi-schen Romantik, nicht selten situativ und polemisch-konfrontativ.
Die Hauptthese ist, dass mit dem Memorizid der Ideen Saul Aschers, der sowohl als Gegner des grassierenden deutschtümelnden Nationalismus als auch insbesondere als Jude diffamiert wurde, wichtige politiktheoretische Erwägungen zur Staats- und Gesellschaftstheorie der europäischen Staaten in der Epochenschwelle zur Moderne bisher weitestgehend unerforscht sind. Eine systematische Befassung mit den Theorien Aschers, insbesondere zu Staat, Gesellschaft und Nation, ist somit ein Desiderat in der Erforschung der progressiv-liberalen Ideengeschichte des frühen 19. Jahrhunderts.
Für den ideengeschichtlichen Zugang ist eine kontextsensitive Herangehensweise relevant, die systematische Gehalte von Texten, polemisch-rhetorische Kontexte und Genres berücksichtigt. Nur wenn der zeitgeschichtliche Hintergrund der Anfänge von Demokratie und Nationalismus als geschichtlicher Rahmen beachtet wird, kann eine angemessene Bewertung der politischen Ideen erfolgen, die falsche Aktualisierungen vermeidet. An erster Stelle steht also die kontextorientierte hermeneutische Rekonstruktion der Diskurse und Kämpfe Aschers. Methodisch wird sich dabei außerdem auch am Challenge-and-Response-Ansatz orientiert, der verschiedene und teils konkurrierende Zugänge zur politikwissenschaftlichen Ideengeschichte integriert. Die Befassung mit Aschers Texten selbst folgt inhalts- und diskursanalytischen Forschungsprogrammatiken, wobei sowohl in Anlehnung an den historischen Kontextualismus der Cambridge School die Kernaussagen, der Sprechakt und -ort und das adressierte Publikum einzelner Texte einerseits als auch andererseits im Sinne einer historisch-kritischen Begriffsgeschichte die genealogische Entwicklung verschiedener Termini (d. i. vor allem Gesellschaft, Nation und Staat) über verschiedene Texte hinweg untersucht werden.
Darüber hinaus finden auch vorsichtige hermeneutisch-performative Zugänge Anwendung, wenn es darum geht, Aschers Rezeption über seinen Tod hinaus zu verstehen.